Dorf
Mythos Dorf
Das Dorf. Wir alle wissen, was das Dorf ist. Wir wissen, wie es aussieht, wie es riecht, wie es sich anfühlt. Da ist der Nachbar, der mich auf der Strasse grüsst, da sind Stille und Natur und die untrüglichen Spuren der Landwirtschaft. Vielleicht verbinden wir es mit dem Begriff der Heimat, mit einer unbestimmten Sehnsucht nach dem Anderen, dem Besseren. Es ist der Ort an den wir hingehen, vielleicht, irgendwann – hingehen um anzukommen, hingehen um zu bleiben.
Das Dorf – ein diffuser Begriff, geprägt von archetypischen Bildern, verklärten Erinnerungen und Assoziationen. Im 21. Jahrhundert ist das Dorf geprägt von hoher Mobilität und dem Wunsch des Einzelnen nach maximaler Privatsphäre. Man will Überschaubarkeit, aber nicht die Neugier des Nachbarn, individuelle Freiheit aber nicht das Dorfgeschwätz. Stetig schwindende Partizipation, Engagement und Identifikation mit dem Ort führen zu vakanten Stellen in Gemeindeverwaltungen, sterbenden Dorfzentren und Gemeindefusionen. Man wohnt im Dorf, aber man lebt dort nicht. Die Massenmobilität hält ständig die Möglichkeit zur temporären Flucht aus dem engen Rahmen und Regelkorsett der kleinen Welt des Dorfes bereit und bewahrt einem davor, sich wirklich darauf einlassen zu müssen, was Dorf eigentlich auch bedeuten würde: Unausweichliche Nähe, begrenzter Horizont, subtile Überwachung, geteilter Raum.
Mittlerweile hat das massenindividualisierte Pseudo-Landleben das Schweizer Mittelland und die Peripherie der Städte mit einem charakterlosen, gleichförmigen und auf sich selbst bezogenen Siedlungsteppich überzogen. Es sind gerade jene Faktoren, welche den Boom des Lebens im Eigenheim auf dem Land erst ermöglichten, denen von Beginn weg die Zerstörung des angestrebten Idylls innewohnte. Man hatte Dorf gewollt, und die Agglomeration erschaffen.Trotzdem – der Hype aufs Land ist ungebrochen. Noch immer wünschen sich 70% der Schweizer Bevölkerung ein Dorf als Wohnort. Auch in der Stadt ist das Dorf präsent. Zeitschriftenmagazine wie “Landliebe” füllen die Regale im Kiosk oder liegen im Ärzte-Wartezimmer als Lektüre bereit. Literarisch, filmisch und künstlerisch erfährt das Dorf eine Renaissance.
Dorfumbau – gegen die Gleichgültigkeit
Wir haben es also mit einer paradoxen Situation zu tun. Das Dorf als solches existiert nicht mehr, und doch ist es omnipräsent. Als überhöhte Gegenrealität zur modernen, globalisierten Stadt haftet es an vergangenen Ideologien und verspricht sich als Idyll in einer sich schnell verändernden Welt. Es ist zum verklärten Mythos geworden, zum Zufluchtsort, zur heilen Welt, zur Utopie.
Alle Welt spricht von Stadtumbau, Stadterweiterung, Stadtraum. Was jedoch ist, so fragen wir uns, mit dem Dorf? Die Strategie der Architekten im Umgang mit dem Dorf ist in den letzten Jahrzehnten primär von Rückzug geprägt. Der Fokus liegt auf der Stadt, auf urbanen Projekten. Im Dorf hat man das Feld, scheinbar ohne schlechtes Gewissen, den Spekulanten, Investoren und „Swisshaus“ überlassen.
So verkümmert die Architektur im Schutze der Vorgärten. Sie wird, jeglicher Repräsentationsfunktion und Interaktion mit dem nicht-privaten beraubt, passiv und gleichgültig. Das Abstandsgrün hingegen gedeiht prächtig, türmt sich entlang der ansonsten unsichtbaren Linien des Privateigentums und unterstreicht die Grenze zwischen Öffentlich und Privat. Einziger Berührungspunkt der Einzelobjekte mit einem übergeordneten, verbindenden System bildet die Garageneinfahrt. Über eine Aussparung im scheinbar endlosen Randstein dockt sie das Einzelhaus an die alles bestimmenden Infrastruktur der Strasse. Die Verbindung zwischen den Bauten bleibt damit auf eine logistische Ebene beschränkt.
Beseitigen wir das Abstandsgrün, damit sich die Architektur wieder mit dem öffentlichen Raum befassen kann!
Dorf leistet Widerstand
Diese freie Diplomarbeit untersucht eine alternative Entwurfsstrategie für das Dorf im 21. Jahrhundert. Dabei dient die Gemeinde Dorf im Flaachtal als Projektperimeter.
Dorf ist eine Umkehrung der gängigen urbanistischen Planung, welche aus Schichten übergeordneter Strukturen und Infrastrukturen die Einheit der Parzelle und zum Schluss noch das Haus hervorbringt. Der Vorgarten des privaten Hauses wird zum Vorgarten des Dorfes. Er umschliesst die Bauzone und agiert als Instrument gegen die Zersiedelung. Die aus ihrem Dasein als brachliegendes Abstandsgrün befreite Fläche zwischen den Häusern verbindet sich zum Dorfraum. Damit wird eine neue Lesart des kollektiven, öffentlichen Raumes ausgelöst. Die nun mögliche Verdichtung nach Innen erhöht die Elementdichte im öffentlichen Raum und stärkt das räumliche Netzwerk. Das Einzelobjekt erlangt die Freiheit, das künstliche Korsett des Grenzabstandes zu sprengen und überwindet die Isolation des Abstandsgrüns, um fortan Teil eines grösseren Ganzen zu sein.
Durch einige wenige, radikal andere Grundsatzentscheidungen entzieht Dorf so den gängigen Planungsnormen und -perimetern ihre Grundlage. Es entledigt sich des Systems durchrationalisierter, allgemeingültiger, unspezifisch-numerischer Planungskriterien und ersetzt diese durch einen einfachen Regelkatalog und Hierarchien, welche aus der Phänomenologie des Ortes, seiner Sozialstruktur und seinen räumlichen und landschaftlichen Eigenheiten hervorgehen.Es verändert den Rahmen für alltägliche Handlungen und damit auch die Bedingungen zur Ausbildung von Gemeinschaft.
Das “Eigene” als Denkhorizont wird herausgefordert und eine Neupositionierung auf dem Feld des “Unseren” notwendig. Zwischen Öffentlich und Privat wird Reibungsfläche zurückgewonnen, Voll und Leer verleihen einander Bedeutung.
Das Projekt hinterfragt zudem auch, wessen Dienstleister der Architekt ist und wessen Interessen er mit seiner Arbeit verfolgt. Sind es nur jene des privaten Bauherren und Investors auf seiner Parzelle oder müssten es nicht viel öfter die eines grösseren Ganzen und des kollektiven Raumes sein, den es vor einer zunehmenden Privatisierung und Kapitalisierung zu verteidigen gilt?
Das Dorf ist tot, es lebe das Dorf!
Ein Manifest gegen das Abstandsgrün
Grün scheint es hervor, und türmt sich entlang der ansonsten nicht sichtbaren Linien des Privateigentums. Es unterstreicht die Grenze zwischen Öffentlich und Privat. Der einzige Kontaktpunkt bildet die Garageneinfahrt - eine Lücke im scheinbar endlosen Randstein.
Die Architektur verkümmert im Schutze des Abstandsgrüns - sie wird passiv und gleichgültig, jeglicher Interaktion mit dem Nicht-Privaten beraubt. Als Relikt der modernen Raumplanung ist es omnipräsent, scheinbar unantastbar und begünstigt das Weiterwuchern der selbstreferenziellen Objekt-Architektur.
Dörfer verkommen zu Schlaforten, eine Ansammlung von Einzelobjekten hinter Abstandsgrün.
Haus - Grün - Zaun - Grün - Haus - Grün - Zaun - Grün...
Der heutige Takt des Dorfes - ein wahrhaftig monotoner Takt.
Beseitigen wir das Abstandsgrün, damit sich die Architektur wieder mit dem öffentlichen Raum befassen kann.
Das Dorf ist tot, es lebe das Dorf!